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Wie die Sprache altes Leben fortführt.

Von Rudolf Hildebrand

Die Sprache führt häufig ein Stück altes Leben noch fort, daß im Leben selbst vergangen ist. So laden wir heute das Gewehr. Geladen wird aber eine Last; eine solche ist ja die Kugel im Gewehr nicht. Es lebt jedoch darin ein Stück aus dem ältesten Geschützwesen; unsere Handfeuerwaffen, Flinte und Pistole, sind nämlich nicht der Anfang einer Entwicklung. Die ältesten Feuerwaffen waren Geschütze von gewaltiger Größe, die man dann immer noch ins Kleinere und Bequemere zog. Die ältesten Geschütze oder Büchsen aber traten an die Stelle der vorherigen Wurfgeschütze, die man aus dem Altertum übernommen hatte, wo sie zur Belagerung gebraucht wurden. Bei denen war "laden" der rechte Ausdruck; denn sie schleuderten aufgelegte Lasten, große Steine und Balken; daher also das heutige Laden des Gewehres.

Längst Vergangenes hält auch die Redensart Lunte riechen fest. "Er hat Lunte gerochen", sagt man z.B. von einem, der in einem Kreise, in dem er sich bewegt hat, auf einmal wegbleibt, weil er bemerkt hat, daß man ihm da nicht wohl will oder selbst Feindseliges im Schilde führt. Das ist die Lunte, die vor Anwendung des Feuersteines, der seinerseits vom Zündhütchen abgelöst wurde, zum Anzünden des Pulvers auf der Pfanne diente, bei Geschützen wie bei den Gewehren. Der glimmende Hanfstrick war weithin riechbar mit größter Deutlichkeit; wer also dem Kampfe auszuweichen Grund hatte, mußte an dem Geruche der Lunte den anrückenden Feind auch im Walde weit genug merken.

Aus ziemlicher Nähe zeigt den Vorgang, daß eine fest gewordene Redensart im Leben ihren Anhalt verliert, aber unbekümmert darum fortlebt, die Redensart "eben noch vor Torschluß". Sie ist unentbehrlich, um ein Geschehen oder Tun zu bezeichnen, das gerade vor der gegebenen Möglichkeit glücklich zu Stande kommt, hat aber ihren sachlichen Ernst nur noch in Festungen hinter sich; denn das Stadttor ist gemeint, das es ja nun nicht mehr gibt. Wir Alten (Anm.: Beitrag wurde veröffentlicht 1915) wissen noch, wie das Ding beschaffen war und was es für eine Bedeutung es auch im Frieden hatte mit seinem Öffnen früh und Schließen abends. Da kam es vor, daß einer Gesellschaft, die sich verspätet hatte, das Tor "vor der Nase" verschlossen wurde, obschon ein sogenannter Torgroschen das strenge Gesetz milderte, und ein Pförtchen in oder neben dem wuchtigen Tore öffnete zum Durchschlüpfen. Eine Stadt mit völlig offenen Gassen ohne jede Möglichkeit eines Verschlusses, während jeder Garten abends verschlossen wurde, das ist etwas, was noch vor hundert Jahren keinem Menschen denkbar war. Noch bei Schiller verstehen sich Stadttor und Torschluß von selber in der "Glocke" und die Stelle braucht nun schon eine Art gelehrter Erklärung, welche die jüngeren Lehrer auch schon nicht mehr aus eigener Anschauung nehmen können. Da der Abend eintritt:

"Um des Lichtes gesell'ger Flamme

Sammeln sich die Hausbewohner

Und das Stadttor schließt sich knarrend".

In dieser Stelle ist bei dem Licht nicht etwa an eine Lampe auf dem Tische zu denken, die es damals noch durchaus nicht gab, auch nicht an Fürstenhöfen; es ist nur ein Licht im Leuchter gemeint. Auch das haben wir Alten noch miterlebt.