Don Quixote und Simplizissimus.
„Was ist denn das, ein fahrender Ritter?“ fragt das hübsche Wirtstöchterlein aus der Schenke, die der edle Don Quixote für ein Kastell hält, neugierig den biederen Schildknappen Sancho Pansa, und erhält von ihm die Antwort: „Höre, Schwester, ich will dir's sagen; ein fahrender Ritter ist, mit zwei Worten, ein Ding, das bald geprügelt wird, bald Kaiser ist. Heute ist er das elendeste und ärmste Geschöpf unter der Sonne, und morgen hat er zwei oder drei Königskronen, die er seinem Schildknappen schenken kann.“ Eine treffliche Erklärung, ganz dem gesunden Bauernverstande ihres Urhebers entsprechend! Freilich betrachtet der brave Nützlichkeitsphilosoph von der Ackerkrume das abenteuerliche Herumvagabundieren mit etwas anderen Augen als der Ritter von der traurigen Gestalt. Sein Urteil stützt sich nicht auf die weisen Lehren, die ihm sein Herr und Gebieter gibt, sondern auf die nackten Tatsachen und Erfahrungen, die er selber macht. Für jenen ist das fahrende Rittertum eine Wissenschaft, die alle Wissenschaften der Welt in sich vereinigt und die nur durch ein gründliches Studium sich erlernen läßt. Er predigt: „Wer die Wissenschaft des fahrenden Rittertums ausübt, muß ein „Rechtsgelehrter sein und die Gesetze des ausgleichenden Rechtes genau kennen, um jedem, was ihm gehört, geben zu können. Er muß Theologe sein, um über den christlichen Glauben, zu dem er sich bekennt, so oft es verlangt wird, klare und bündige Antwort geben zu können. Er muß Arzt sein und vor allem Botaniker, um mitten in den Wüsten und Einöden die Kräuter, die eine heilende Kraft haben, auffinden zu können, denn der fahrende Ritter kann nicht nach jedem Kampfe jemand suchen, der ihn verbindet. Er muß Astronom sein, um an dem Gestirn zu erkennen, wie spät es in der Nacht ist, unter welchen Himmelsstrichen und sogar in welchem Weltteil er sich befindet. Er muß Mathematik verstehen, denn jeden Augenblick bedarf er ihrer“, und da es sich von selbst versteht, daß er mit allen christlichen und Kardinaltugenden geschmückt sein muß, soll er „keusch sein in seinen Gedanken, anständig in seinen Worten, freigebig in seinen Werken, tapfer in seinen Taten, duldsam in Mühseligkeiten, mitleidig mit den Bedrängten und endlich ein strenger Verfechter der Wahrheit, sollte ihn die Verteidigung derselben auch das Leben kosten“.
Don Quixote glaubt diese schwierige Wissenschaft in sich aufgenommen zu haben, und darum verläßt er seine Heimat, verpfändet seine Habe, entsagt aller Bequemlichkeit, wirft sich Fortuna in die Arme und zieht, keiner Mühsal achtend, hier strauchelnd, dort fallen, dann sich wieder aufrichtend, bald Witwen unterstützend, bald Jungfrauen beschirmend, bald Bedrängte erlösend, bald mit Ungeheuern ringend, rastlos durch die Lande, um die schlafen gegangene fahrende Ritterschaft, den Ruhm der Ritter von der Tafelrunde, der Zwölfe von Frankreich und anderer Helden nicht nur zu erneuern, sondern ihn durch unerhörte Taten und Waffenwunder zu verdunkeln.
In der Einbildung vollbringt er alle diese kühnen Wagnisse, erreicht er, daß seine „zahlreichen christlichen Heldentaten“ fast in allen Ländern der Erde gedruckt — freilich ihm zum Spott, den er nicht erkennt — von Hand zu Hand gehen.
Sancho Pansa jedoch, der nur die Wirklichkeit sieht, spürt nichts von dieser Gloriole. Er spürt nur die Prügelsuppen, das Prellen, den Steinhagel, die Faustpüffe, die zerschundenen Glieder, die Beulen, die er redlich als treuer Knappe mit seinem Weggenossen teilt, und zieht besorgt der Weisheit letzten Schluß: „Unser Abenteuersuchen wird uns am Ende, wenn's um und um kommt, noch so tief ins Unglück reiten, daß wir nicht mehr wissen, was unser rechtes Bein ist.“
Don Quixote ist der reinste Typus des fanatischen Abenteurerpedanten. Ein Fanatiker, weil er das Abenteuer an sich als Lebenselement empfindet und mit einer ungezügelten Versessenheit hinter allem herläuft, was irgendwie den Stempel des Abenteuerlichen trägt; ein Pedant, weil er sich mit der zähen Gewissenhaftigkeit eines Stubengelehrten in seinen Beruf verbohrt.
Eine wirre Kette von erstaunlichen Begebenheiten und Wagnissen, die, mögen sie unter den mannigfaltigsten Voraussetzungen und Umständen zustande kommen, doch nur immer um der Gunst und des Lächelns einer auserwählten Dame willen gesucht und verrichtet werden — dann scheint sich ihm das Wesen des Rittertums zu offenbaren. Er ist in dieser Hinsicht die auf die Spitze getriebene und darum zu einer Karikatur ausgeartete Konsequenz jener fahrenden Rittergestalten, die in der Wirklichkeit im Ulrich von Lichtenstein, in der Dichtung der berühmte Amadis de Gaula und das große Gefolge der internationalen Amadise und Palmerine vertreten.
Man schaue sich diese sonderbaren von der Phantasie ersonnenen Helden, die den Zeitgenossen des Cervantes die Köpfe verdrehten, etwas näher an. Da sehen wir zuerst den Ahnherrn des erhabenen Reckengeschlechts: Amadis, den natürlichen Sohn des Königs Perion von Gaula (Wales) und der bretagnischen Prinzessin Elisena. Es schwindelt einem, wenn man von seinen Heldentaten liest. Keine Schwierigkeit ist ihm zu groß, kein Hindernis gibt es, das er nicht überwindet. Ob er im Kampf mit hundert oder tausend Rittern steht, er geht letzten Endes doch als Sieger hervor; ob sich ihm Riesen, Zauberer oder Ungeheuer in den Weg stellen, er reißt sie alle zu Boden; ob er Flotten vernichtet oder Königreiche befreit, er triumphiert immer, der Halbgott.
Nur in einem Punkte bleibt er verwundbar und menschlich: in der Liebe. Hier schmachtet er und leidet er, wie jeder andere Sterbliche; hier kann er sogar zum Melancholiker werden, wie Schillers Ritter Toggenburg.
Der tapfere Abenteurer findet eine würdige Nachkommenschaft, die seinen Ruhm bis ins hundertste Glied weiterträgt. Florisando, sein Neffe, wetteifert in Tatendurst und Waffenglanz mit seinem großen Oheim. Florisels Sohn, Don Rogel de Grecia steht ihm ebenfalls kaum nach. Hundert andere Florisels und Amadise wandeln stolz in ihren Spuren, nur zuweilen von den Leistungen der wackeren Sprößlinge Palmerins de Oliva, des zweiten berühmten Ahnherrn fahrender Rittergenies, in den Schatten gestellt.
Und so häuft sich Heldenruhm auf Heldenruhm, daß uns Nachgeborene beim Anstaunen solcher Leistungsfähigkeit zermürbender Kleinmut ob unserer Nichtigkeit befällt und wir beschämt die Augen niederschlagen. Abenteuer bilden die Beweggründe dieser gepriesenen Herrlichkeit, Abenteuer durchfluten das Dasein jener herumirrenden Ritter in unaufhörlicher Bewegung — dafür sorgt der verfolgende Zauberer, der sich jedem von ihnen an die Fersen heftet und immer neue Verwickelungen mit Riesen, Zwergen, Drachen, Meerungeheuern oder verzauberten Schlössern schafft —, Abenteuer sind das A und O des Sehnens und Strebens aller der vielgestaltigen Ritter „vom brennenden Schwerte“, „vom Einhorn“, „vom Phönix“, „vom Greifen“ und endlich auch des letzten edlen Sprosses aus Amadis Geschlecht, des „Ritters von der traurigen Gestalt“.
Diese unbändige, verzehrende, unheilvolle Sehnsucht und der Wunsch, die Ahnengalerie der Amadise mit einer neuen unsterblichen Gestalt zu bereichern, treibt den armen Gutsbesitzer aus der Mancha zum Leidwesen seiner Haushälterin und Nichte von Haus und Hof. Mit einer verrosteten Pickelhaube, die später durch „Mambrins“ erbeuteten Helm — das Seifenbecken des Dorfbarbiers — ersetzt wird, auf dem langgestreckten Haupte, eine alte Tartsche in der knochigen Hand, reitet er, den mageren, ausgehungerten Leib des Streitrosses „Rosinante“ zwischen den langen, dürren, bis zur Erde schleifenden Beinen, gefolgt von Sancho Pansas auf eines Grautiers Rücken kauernden Kugelgestalt, in die Welt der auf ihn harrenden Großtaten hinein. Und wie einst der von ihm vergötterte Ahnherr vollbringt er eine heroische Leistung nach der andern.
In Glück und Ungemach, immer zieht er Vergleiche; immer erinnert er sich, bald zum Trost für widerfahrene Unbill, bald als Ansporn zu auserlesener Tapferkeit, der Geschehnisse, die seinen ruhmgekrönten Vorfahren an Ort und Stelle begegnet sein mögen.
So im Geist ganz und gar in der Vergangenheit lebend, verwandelt seine Einbildungskraft die nüchternsten Tatsachen und lächerlichsten Vorkommnisse in die fabelhaftesten Begebenheiten.
Bauerndirnen werden zu hochgeborenen Damen, zerfallene Spelunken wachsen zu Kastellen mit Türmen und Zinnen empor, Schankwirte erhalten die Würde von Schloßhauptleuten, Dorfpfarrer die von Erzbischöfen, eine häßliche Kuhmagd avanciert zu einem asturischen Edelfräulein — ihr Hanfhemd, wird mit farbenreichem Musselin, ihr pferdemähnenartiges, struppiges Haar mit Fäden arabischen Goldes, ihr nach Zwiebel und Knoblauch riechender Atem mit ambrosischem Duft verglichen —, von Schafherden aufgewirbelte Staubwolken gelten als Kennzeichen tobender Schlachten, Windmühlen stellen sich als Riesenungeheuer drohend in den Weg und eine Wassermühle wird für eine Feste angesehen, in der irgendein bedrängter Ritter oder eine gefangene Prinzessin der Befreiung harrt.
Nur selten geht Don Quixote so sieghaft und unversehrt aus seinen Abenteuern hervor wie etwa aus dem Zweikampf mit dem Spiegelritter, den er mit der Lanze vom Pferde wirft, oder wie aus der Begegnung mit dem Löwenkäfig, dessen wilder Insasse es vorzieht, seinem herausfordernden Gegner — wahrscheinlich seiner Magerkeit halber — das Hinterteil zuzukehren, anstatt durch das geöffnete Gitter über ihn herzufallen, oder wie aus der „schrecklichen“ Höhle des Montesinos.
Meist bringt ihm seine Tollkühnheit den Verlust einiger Zähne, ein paar Beulen, Rippenbrüche, zum mindesten eine tüchtige Tracht Prügel ein. Kann er mit einer Geldbuße für angerichteten Schaden davonkommen, ist es schon eine besonders glückliche Lösung. Am bedauernswürdigsten erscheint er immer, wenn seine edelsten Absichten solchen heimtückischen Lohn finden. Immer bereit, nach echter fahrender Ritter Art, Bedrängten beizuspringen, sie von ihren Peinigern zu erlösen, muß er mehr als einmal um solcher vornehmen Gesinnung willen seine eigene Haut zum Markte tragen. So ergeht es ihm bei der Begegnung mit den rüpelhaften Vanguesern, als er — für die Gelüste seines Rosinante nach den galizischen Stuten, die jene mit sich führen, volles Verständnis zeigend — dem bedrohten und von den Pferdetreibern arg zugerichteten Gaul zu Hilfe eilt. So wickeln sich die Abenteuer mit den Seidenverkäufern, den Schafhirten, den Galeerensklaven, den Büßern und allen, denen Don Quixote als Retter in der Not zu erscheinen glaubt, in ihrem letzten Stadium ab. Aber er tröstet sich damit, daß der stolze Amadis sich in ähnlichen Lagen befunden und meist größere Beschimpfungen als er ausgestanden habe. „Und überhaupt mußt du wissen, Sancho,“ philosophiert er nach einer solchen peinlichen Niederlage, „daß Wunden und Schläge, beigebracht mit Instrumenten, die dem Gegner nur von ungefähr in die Hände gekommen, gar nicht schimpflich sind; wie in den Duellgesetzen klar geschrieben steht. Dies sage ich dir zum Troste, damit du nicht etwa glaubst, wir wären durch die empfangenen Prügel beschimpft worden, denn so viel ich mich erinnere, waren die Waffen der Leute, die uns so zugerichtet haben, nichts als Knüttel und Pfähle, und kein einziger hatte Degen, Schwert und Dolch.“
Und noch ein anderer Trost beruhigt ihn, wenn irgendein Abenteuer fehlschlug: daß mächtige Zauberer ihm den Weg zum Ruhm mißgönnen. Wie jenes hehre Geschlecht der Amadise und Palmerine fortwährend unter der Niedertracht der Zauberer zu leiden hatte, so fühlt auch Don Quixote sich ständig von solchen bösen Geistern verfolgt. „Du bist so lange schon bei mir,“ belehrt er eines Tages Sancho, als es diesem sonst alles leichtfertig glaubenden Gesellen nicht in den Kopf gehen will, wie man ein unanzweifelbares Barbierbecken für Mambrins Helm halten könne, „und hast noch nicht gemerkt, daß alles Tun der fahrenden Ritter ungerecht und töricht scheint und wie eine verkehrte Welt aussieht, nicht, weil es wirklich so ist, sondern weil uns unaufhörlich eine Rotte Zauberer umgibt, die alle unsere Sachen nach ihrem Belieben verwandeln und vertauschen, gut oder schlimm machen, je nachdem sie uns wohlwollen oder nicht.“
Fürwahr, eine leichte Methode, sich über jede Enttäuschung hinwegzusetzen! Don Quixote ist sie so in Fleisch und Blut übergegangen, daß er die Dinge überhaupt nicht anders als aus diesem Gesichtswinkel zu sehen vermag. Seine Feinde, die Zauberer, müssen unbedingt — so folgert er — überall die Hand im Spiele haben: sie haben die Riesen in Windmühlen, die feindlichen Ritterheerscharen in Hammelherden, den Spiegelritter in den Bakkalaureus Samson Carasco, Mambrins Helm in ein Barbierbecken, die Schlösser und Kastelle in Wassermühlen und Scheunen verwandelt; sie sind auch die Unseligen, welche die erhabene, unübertreffliche tugendsame und schöne Dulzinea von Toboso die Gestalt einer häßlichen Bauerndirne annehmen heißen, weil der Neid auf Don Quixotes Heldentaten an ihren Seelen frißt, weil sie ihm nicht den Triumph gönnen, weil sie ihn beleidigen, an der empfindlichsten Stelle verwunden wollen.
Aber der Ritter von der traurigen Gestalt läßt sich selbst durch diese arglistige Verzauberung nicht beirren. Wie er ruhig und unerschüttert bleibt, als Sancho von seinem erdichteten Besuch bei Dulzinea erzählt und sie als eine „wackere Dirne“ schildert, „ein rechtes Kernmensch, das Haare auf den Zähnen hat und jeden fahrenden Ritter, der sie sich zum Schutz erwählt, beim Bart aus dem Dreck ziehen könnte“, ebenso äußert er nicht die geringste Überraschung, als er ihr in der bäuerischen Maske begegnet. Trotzdem die neidischen Zauberer sie „aus einer Schönheit in eine Katze, aus einem Vogel in einen Teufel, aus einer Wohlgeruch Duftenden in eine die Luft Verpestende, aus einer Feingebildeten in eine Ungeschliffene, aus einer Bescheidenen, Sittsamen in eine Luftspringerin, aus Licht in Finsternis, kurz aus Dulzinea von Toboso in eine Dorfdirne aus Sayago“ verwandelt haben, ist sie für ihn nach wie vor „die größte Prinzessin der Welt“. Man sollte danach meinen, Dulzinea müsse ein auserlesenes Muster von Schönheit, Anmut und Tugend sein, der zu Ehren es sich wohl verlohne, wie weiland Ulrich von Lichtenstein, Abenteuer auf Abenteuer zu bestehen. Doch wie erstaunt man, wenn man erfährt, daß die Angebetete und Vielgepriesene nur ein imaginäres Wesen ist, ein Phantasieprodukt, entstanden unter der Erinnerung der Frauengestalten jener Ritterromane, die dem armen Gutsherrn aus der Mancha das Hirn verwirrt haben. „Gott weiß es,“ erklärt er der Herzogin, „ob es eine Dulzinea in der Welt gibt oder nicht, ob sie phantastisch ist oder wirklich, und dies gehört zu den Dingen, deren Untersuchung man nicht auf den äußersten Grund verfolgen muß, wenn man sich nicht ganz in den Garnen der Zauberin verwirren will.“ Und Sancho gesteht er offen: „Ich bilde und male sie in meiner Einbildungskraft ganz nach Wunsch sowohl was Schönheit als Vortrefflichkeit anbelangt. Weder Helena kommt ihr gleich, noch Lukrezia, noch irgendeine der berühmten Frauen des Altertums oder der Neuzeit. Halte jeder davon, was er will; wenn Unverständige mich tadeln, so werden Vernünftige mich loben.“
Und um dieses in der Luft schwebenden Ideals willen kehrt ein Mann, der den Zenith seiner Jahre bereits überschritten hat, seinem geruhigen Dasein den Rücken, stürzt sich in die Unkosten eines abenteuerlichen Herumstreifens, erträgt Hitze und Kälte, Hunger und Durst, peinigt sich mit selbstgewollten Strapazen, erduldet Schimpfworte und Schläge, erntet Spott und Hohn und kommt erst zu Vernunft, als er schon mit einem Fuße im Grabe steht. Niemals hat die Begeisterung schlimmere Früchte getragen, der Idealist kläglicher Schiffbruch gelitten als in der Person des Ritters von der traurigen Gestalt. Man könnte darum den „Don Quixote“ für eine Satire auf die Begeisterung, auf den Idealismus halten. Ob Cervantes diesen Sinn in seinen unsterblichen Roman bewußt hineingelegt hat, wissen wir nicht. Ihm lag es in erster Linie daran, die literarische Modekrankheit seiner Zeitgenossen — die Schwärmerei für die Ritterromane — durch Karikierung des fahrenden Rittertums zu beseitigen. Das ist ihm auch vortrefflich gelungen. Das Übel wurde mit der Wurzel ausgerissen. Mit Don Quixote erlosch das tapfere Geschlecht der mittelalterlichen Abenteurer in Brünne und Helm. Als ihn sein treuer Sancho in die dunkle Erde bettete, da sank auch das fahrende Rittertum mit ihm in die Gruft.
Es ist eine eigentümliche literaturgeschichtliche Tatsache, daß der erste Meisterroman der Weltliteratur und der erste bedeutende deutsche Roman Abenteurerschicksale behandeln.
Zwischen dem Erscheinen beider Dichtungen liegt ein Zeitraum von vierundsechzig Jahren. Freilich sind die Haupthelden dieser Werke grundverschiedener Natur, aber sie ähneln sich darin, daß sie beide bestimmt ausgeprägte Abenteurertypen in vollendeter Form verkörpern. Don Quixote ist die komische Apotheose fahrender Ritterschaft, der letzte Vertreter jener kampflustigen Abenteurergattung, die mit den Kreuzzügen aufkam, das Ungewöhnliche, außerhalb des Alltags Liegende, Gefahrvolle und Romantische zum Ziel und Zweck ihres Daseins erkor, unendlich viel an Verschrobenheiten und Narrheiten in die Welt setzte und mit dem Aufhören des ritterlichen Standes ihre Bedeutung verlor.
In Grimmelshausen „Simplizissimus“ jedoch erblicken wir den würdigen Repräsentanten eines neuen Abenteurergeschlechts, das, aus dem Landsknechtswesen herausgewachsen, mit Kriegsglück und Kriegsnöten aufs engste vermischt, seine Betätigung im unruhigen, von den wirren politischen Zeitläuften wechselvoll herumgeworfenen Soldatenleben suchte: den Kriegsabenteurer.
Keine Zeit eignete sich besser für die Entwicklung dieses Abenteurertypus, als die erste Hälfte des von Waffenlärm und Schlachtengetümmel fast ununterbrochen widerhallenden siebzehnten Jahrhunderts. Der dreißigjährige Krieg bildete den düsteren Hintergrund. Daß er von Söldnerscharen geführt wurde, bedingte sowohl seine Dauer wie den entsetzlichen Jammer, der ihn begleitete; den Leuten, die das Soldatentum zu ihrem Beruf erwählten, mußte es daran gelegen sein, den Kriegszustand so lange als möglich aufrecht zu erhalten. In dem Söldnercharakter der Truppen lag auch die Ursache der grenzenlosen Sittenverderbnis jener Zeit. Von Gewinn- und Genußsucht getrieben, auf kärgliche Löhnung angewiesen, auf deren Auszahlung die Söldner zuweilen Wochen und Monate warten mußten, griffen sie zu Raub und Plünderung, wo sich nur eine günstige Gelegenheit bot. Das Stehlen und Plündern wurde geradezu als Hauptzweck des Kriegführens aufgefaßt, wie es Logau in einem kleinen Epigramm trefflich charakterisiert:
„Was man dem Feinde entwandt, das heiße, meinst du, Beute?
Nein, was der Bauer hat und was die Edelleute,
Was man auf Straßen stiehlt, was man aus Kirchen raubt,
Das heißet Beut' und ist bei Freund und Feind erlaubt.“
Da nichts als die Aussicht auf Befriedigung roher sinnlicher Gelüste die Söldner bei der Truppe hielt, ließen es die Feldherren kaltblütig geschehen, daß ihre Soldateska die arme Landbevölkerung brandschatzte, drangsalierte, bis aufs Blut aussog und das erbeutete Hab und Gut mit liederlichem Weibsvolk verpraßte. Wirft man einen Blick in das damalige Lagerleben, dann glaubt man eher ein auf der Wanderschaft befindliches Nomadenvolk als ein geordnetes Heer vor sich zu sehen.
Jedem Soldatentrupp schloß sich ein Schwarm fragwürdiger Gestalten an, der an Zahl die waffentragende Mannschaft oft um das doppelte übertraf. Da waren Marketender und Marketenderinnen, Dirnen, allerhand Landfahrer, Gaukler, Wahrsager, Spaßmacher, Komödianten, professionelle Verbrecher, die im Zeltlager vor dem rächenden Arm der Justiz Zuflucht suchten, verbummelte Studenten, Wegelagerer und Glücksritter verschiedenster Art. Welch ein buntscheckiges Bild ergaben allein die den Troß begleitenden Frauen in ihrer Gesamtheit! Fast jeder Soldat hatte sein angetrautes oder nicht angetrautes Liebchen, das ihn des Feldzugs Müh und Not im Lager vergessen lehrte. Fiel er oder geriet er in Feindeshand, dann wählte sich sein Schatz oder seine Witwe schleunigst den nächsten Besten zum Stellvertreter. Ob Freund oder Feind — danach wurde nicht gefragt.
Grimmelshausens „Landstörzerin Courage“ zeigt uns anschaulich den Werdegang einer solchen Soldatenbraut. Aber außer den Pflichten einer Bettgenossin erwuchsen diesen Lagerweibern noch eine Reihe Aufgaben, die sie zu erfüllen hatte. „Etliche nahmen“ — heißt es im „Simplizissimus“ — „keiner anderen Ursache halber Weiber, als daß sie durch solche entweder mit Arbeiten oder wohl gar mit Stehlen ernährt werden sollten. Da war eine Fähnrichin unter den Weibern, die hatte ihre Gage wie ein Gefreiter, eine andere war Hebamme und brachte dadurch sich selbsten und ihrem Mann manchen guten Schmaus zuwege, eine andere konnte stärken und waschen; diese wuschen den ledigen Offizieren und Soldaten, andere verkauften Tabak und versahen den Kerls ihre Pfeifen, eine andere war eine Näherin, damit sie Geld erwarb, eine andere wußte sich aus dem Felde zu ernähren, im Winter grub sie Schnecken, im Frühling graste sie Salat, im Sommer nahm sie Vogelnester aus, und im Herbst wußte sie sonst Schnabelweide zu kriegen.“
Es versteht sich von selbst, daß unter solchen Verhältnissen an eine straffe Manneszucht nicht zu denken war. Soweit die kriegerische Tätigkeit in Betracht kam, mußte sich der Söldner allerdings den Befehlen der Offiziere bis zu einem gewissen Grade fügen, aber im Lager konnte er schalten und walten nach Belieben. Über den freiwillig mit dem Heere mitziehenden oder seinen Spuren folgenden Troß reichte schon gar nicht die Befehlsgewalt der Führer, die es übrigens nicht selten schlimmer als die Gemeinen trieben. Dieses hinter den Heerhaufen herziehende Gesindel, das sein Lagerleben so eng mit dem Truppenkörper verschmolz, war es hauptsächlich, das wie ein vernichtender Heuschreckenschwarm über das Land dahinbrauste und blühende Gefilde in tote Strecken verwandelte. Von diesen vagabundierenden und marodierenden Hyänen des Schlachtfeldes wurden die meisten der Scheußlichkeiten und Grausamkeiten verübt, von denen die Chronik des dreißigjährigen Krieges zu erzählen nicht müde wird.
Simplizissimus ist das Kind jenes blutrünstigen, beutegierigen, verwahrlosten Zeitalters. Viele Selbsterlebnisse des Dichters haben in dieser Gestalt ihren Niederschlag gefunden. Darum wirkt sie so echt und wahrheitsgetreu. Es scheint einem, als versinnbildliche sie den ganzen abenteuerlichen Geist des siebzehnten Jahrhunderts. Der mörderische Krieg wird Simplizissimus’ Erzieher. Er reißt ihn aus dem Elternhause fort und offenbart sich schon dem Kinde in seiner furchtbarsten Form als Vertilger friedlichen Lebens und Peiniger unschuldiger Leute. Die Seelenangst treibt Simplizissimus von dem eingeäscherten Bauerngehöft zu einem Einsiedler, der ihn die Einfalt des Herzens lehrt und bei dem er bis zu dessen Tode bleibt. Aus der Beschaulichkeit seines jugendlichen Anachoretendaseins wird der Knabe vom Schicksal mitten in die Kriegswirren hineingeworfen. Der Zufall fügt es, daß er zu dem Kommandanten von Hanau kommt, der sich als Schwager des verstorbenen Eremiten entpuppt.
Im Hause seines neuen Brotherrn, der an dem wunderlichen weltfremden Waldkinde Gefallen findet, entwickelt er sich zu einer Art Spaßmacher für die Herren Offiziere der Garnison. Er spielt diese Rolle aber nur als Maske; während er die Umgebung mit seinem Mutterwitz ergötzt, schaut er ihr tief in die Seele und gewinnt früh einen scharfen Blick für die verrotteten Zustände seiner Zeit. Da wird er eines Tages vor den Wällen der Festung von herumstreifenden Kroaten aufgegriffen und mitgeschleppt. Eine Weile nimmt er als Zuschauer an ihren Raubzügen teil, dann entwischt er und beginnt nun ein Abenteurerleben auf eigne Faust.
Mit richtigen Landfahrergewohnheiten leitet er es ein: tagsüber hält er sich in den Wäldern verborgen, und nachts schleicht er in die umliegenden Dörfer und stiehlt. Bald zieht er als Mädchen verkleidet im Lande umher und macht allerlei derbkomische Erfahrungen, bald geht er unter die Marodeure und verübt mit anderen Kumpanen gemeinen Straßenraub, bald erlernt er alle Künste des Waidwerks und erwarbt sich auf diesem Gebiete eine solche Fertigkeit, daß sie ihm den Beinamen der „Jäger“ einbringt, den er auch als Soldat beibehält, bald vertauscht er da das Landknechtswams mit dem Narrenkleid und betätigt sich wie zu Beginn seiner Laufbahn als Hanswurst.
Opernsänger, Schatzgräber, Geisterbanner, Kalendermacher, Quacksalber, Landwirt, Pulverfabrikant, kurzum kaum eine Erwerbsmöglichkeit gibt es, die er nicht ausprobiert. So gleicht sein Leben einem Kaleidoskop, das jeden Augenblick eine neue Gestalt zeigt. Aber immer wieder kehrt er doch zwischendurch zum Soldatentum zurück. Wohl ein halbes Dutzendmal wechselt er seine Vorgesetzten; er dient bei den Kaiserlichen und dient bei den Schweden — je nachdem, wie das Kriegsglück es fügt; er durchläuft die militärische Rangstuftenleiter vom gemeinen Musketier bis zum Hauptmann, doch in regelloser Reihenfolge, auch übereinstimmend mit den Wechselfällen seines Schicksals; und mit dem Soldatenstande übernimmt er dessen Tugenden und Laster.
Auf dem Schauplatz der Liebe erntet Simplizissimus nicht minder reiche Erfahrungen als auf dem Kriegspfade. Ein rechter Landsknecht, läßt er kein hübsches Mädchen ungeschoren. Zweimal verstrickt er sich in die Netze der Ehe. Das eine Mal ist es eine Oberstleutnantstochter, mit der er eine Liebschaft anbändelt und die er auf des Vaters Geheiß, der das Pärchen in einem ungeschicklichen Beisammensein ertappt, heiraten muß; die Ehe währt jeboch nur einige Wochen, dann geht Simplizissimus seiner Wege, macht einen Abstecher nach Paris und vergießt über galanten Abenteuern bald die ihm zwangsweise angetraute Oberstleutnantstochter.
Als ihm später ein frisches, dralles Bauernmädchen über den Weg läuft, stürzt er sich abermals über Hals und Kopf in das Ehejoch. Mit seinen Ersparnissen erwirbt er einen Meierhof und versucht sich als Landwirt zu betätigen. Allein das ruhige Landleben behagt ihm ebensowenig wie seine liederliche, dem Trunk ergebene Frau. Alls sie bald darauf an den Folgen ihrer Unmäßigkeit stirbt, schnürt Simplizissimus seine Siebensachen und zieht mit dem Schwur, sich nie wieder zu verheiraten, von neuem auf die Wanderschaft ins Ungewisse hinein. Es folgen die buntesten Jahre seines Lebens. Er kommt durch aller Herren Länder; er besucht Rußland, richtet dort Pulvermühlen ein, kämpft mit den Tataren, wird von ihnen gefangen genommen und nach Korea abgefertigt; der Weg führt ihn nach China, Japan, Indien, wo er türkischen Piraten in die Hände fällt, die ihn an Kaufleute aus Alexandrien verhandeln; man zwingt ihn zum Galeerendienst, aus dem ihn die Venetianer befreien; dann pilgert er nach Rom und Loretto und kehrt endlich, nachdem er drei Jahre abwesend war und inzwischen der Frieden geschlossen wurde, in die deutsche Heimat zurück. Hier macht er seine Rechnung mit der Welt und begibt sich, von dem Gefühl der Nichtigkeit und Eitelkeit alles Seins getrieben, in die Waldeinsamkeit, um sein Leben dort zu beschließen, wo er es begonnen hatte.
Ein Abenteurer, der als Eremit endet! Fürwahr, ein seltsamer Fall! In der Wirklichkeit begegnen wir ihm nie. Aber der Dichter konnte sich wohl eine solche Lösung erlauben.
Allerdings scheint er gefühlt zu haben, daß ein so unruhiges, mit allem Irdischen innigst verwachsenes Gemüt sich für die Dauer nicht in das Einsiedlerleben zu schicken vermag. Darum greift er nochmals zur Feder und schreibt einen anderen Schluß. Er läßt Simplizissimus in seinem Anachoretendasein nur eine Weile verharren. Nach dieser Erholungs- und Entsagungspause erscheint er von neuem in dem Getriebe der Welt. Und er offenbart sich uns wieder als der abenteuerlustige Landstörzer, der lebenserfahrene und überlegene Beobachter, der unveränderliche Spaßmacher und Zechbruder, nur mit dem Unterschied, daß er sich den Renommierton seiner Standesgenossen zu eigen gemacht hat und den Mund viel voller nimmt als früher. Simplizissimus setzt sein Wanderleben fort. Er kommt wieder nach Italien, Alexandrien und gerät in Ägypten zum zweitenmal in Seeräubergewalt.
Doch erlöst ihn ein Schiffbruch aus seiner bedrängten Lage. Mit einem jungen Zimmermann wird er auf eine einsame Südseeinsel verschlagen. Sie richten sich beide notdürftig auf dem verlassenen Eiland ein und führen ein wahres Robinsondasein, das Simplizissimus auch nicht aufgibt, als der Tod ihn seines Leidensgefährten beraubt. Von einem holländischen Kapitän, den der Zufall in jene Gegend bringt, erfahren wir die näheren Umstände dieser selbstgewählten Verbannung. So schließt das Leben des Landstörzers Simplizissimus mit einer Robinsonade, fast zu gleicher Zeit, da der Vater des berühmten Robinson — der Engländer Defoe — in London das Licht der Welt erblickt.
Simplizissimus, die Erstausgabe ist kostenfrei downloadbar von:
http://ia301512.us.archive.org/1/items/derabenteuerlich00grimuoft/derabenteuerlich00grimuoft.pdf