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Zu Recht erinnert man sich in Österreich mit einem gewissen Stolz an die Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, wo Wien die glanzvolle Reichshaupt- und Residenzstadt der österreichisch-ungarischen Monarchie war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwandelte sich Wien von einer kleinstädtischen Metropole in eine Großstadt von internationalem Format. Die Ringstraße feierte 2015 ihr 150jähriges Jubiläum, und man
erinnert sich in diesem Zusammenhang auch an ihre Bauherren und Architekten sowie an die zahlreichen Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur und Wissenschaft, welche die Erinnerung an diese Epoche nachhaltig geprägt haben. Sie gehörten fast ausnahmslos dem Großbürgertum an, waren Superreiche oder sehr wohlhabende Menschen: sie repräsentieren das eine Wien.

Die Bewohner des anderen Wien sind längst vergessen: die kleinen Angestellten und Gewerbetreibenden, die Arbeiter und Arbeiterinnen, die Dienstboten und Wäscherinnen, die Fabrikarbeiter, das Proletariat, also die Mehrheitsbevölkerung, die unter äußerst prekären Verhältnissen ihr Dasein fristen musste, kennt man nicht mehr. Sie sind im Gegensatz zu den oberen Zehntausend jener Zeit für uns heute lebenden Menschen „unsichtbar“. Herkömmliche Erzählweisen über das damalige Wien stellen Armut eher als ein Randgruppenphänomen dar. Aber der Großteil der in den Vorstädten und Vororten wohnenden Bevölkerung Wiens um die Jahrhundertwende war arm, eine Tatsache, die so gar nicht zu dem ebenso verklärten wie verkitschten Wien-Bild jener Zeit passt und weitgehend verdrängt ist. Mit diesem Thema befinden wir also nicht am Rande, sondern in der Mitte der damaligen Gesellschaft. Nie zuvor in der Geschichte Wiens waren Einkommen und Vermögen so ungleich verteilt wie damals!

Die Vorstellung von der damaligen Zeit und die tatsächliche Realität klaffen weit auseinander. Will man das andere Wien kennenlernen, dann muss man sich auf eine völlig neue Sichtweise einlassen. Das kitschig-verklärte, vollkommen unrealistische Bild von Alt-Wien und der guten, alten Zeit ist dabei ebenso wenig hilfreich, wie eine Konzentration auf das glanzvolle Kultur- und Geistesleben des zweifellos ebenso realen Wiens der Ringstraßenzeit, des Fin de Siècle und der Moderne. „Wien um 1900“ ist dank zahlreicher Publikationen und Ausstellungen eine Marke geworden, sie umfasst aber nur die damalige schmale Schicht der Eliten und verstellt dadurch ebenso wie der Kitsch die Sicht auf die Lebenssituation der Mehrheitsbevölkerung. Wien unterschied sich hinsichtlich der allgemeinen tristen sozialen Verhältnisse nicht wesentlich von andern Metropolen der damaligen Zeit. Hinsichtlich der Erinnerungskultur gibt es aber gravierende Unterschiede: der Gedanke an Alt-Wien blendet Not und Elend und damit eine realistischere Vergangenheitseinschätzung weitgehend aus. Das findet man in anderen Ländern und Städten nicht in diesem Ausmaß. Die vorliegende Arbeit befasst sich im Gegensatz zu herkömmlichen Betrachtungsweisen schwerpunktmäßig mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen jener etwa 1,5 Millionen Menschen, die abseits der Zonen der Eleganz ihr Dasein fristen mussten: sie lebten im Schatten der Ringstraße.
Literatur dazu findet man sehr selten, das Interesse der Historiker am Alltag der einfachen Menschen ist im Allgemeinen eher gering. Die klassische Geschichtsschreibung orientiert sich vielmehr an den großen Ereignissen und den maßgeblichen Akteuren der jeweiligen Epoche. Das Interesse der Historiker am Alltäglichen ist endendwollend.
So ist es kein Wunder, dass man bei näherer Beschäftigung mit den Lebensbedingungen der Durchschnittsbevölkerung vergangener Zeiten eine fremde und unbekannte Welt betritt.

Einige Bemerkungen scheinen mir abschließend noch erforderlich:
In zeitlicher Hinsicht beziehen sich meine Ausführungen in einem weiteren Sinne auf eine Periode, die von der Eröffnung der Ringstraße am 1. Mai 1865 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914 reicht. Was die damaligen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Menschen anbelangt, liegt der Fokus meiner Arbeit auf den Jahren zwischen 1880 und 1914. In diesem Zeitraum verschlechterten sich die Lebensbedingungen für den Großteil der Wienerinnen und Wiener in dramatischer Weise. Diese ungünstige Ausgangslage wird während der Kriegsjahre 1914 bis 1918 und in den Monaten nach dem Friedensschluss nahezu ins Unerträgliche gesteigert. Auf diese Periode wird in der vorliegenden Arbeit allerdings
nicht eingegangen. Globalere Aussagen, die nicht nur Wien betreffen, beziehen sich auf das alte Österreich.

Mit Österreich oder dem alten Österreich bezeichne ich jenen Teil Österreich-Ungarns („Österreichisch-ungarische Monarchie“), der staatsrechtlich bis 1915 als „Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ bezeichnet wurde und auch als Cisleithanien bekannt ist.1 Wenn unkommentiert der Begriff Jahrhundertwende gebraucht wird, dann ist damit die Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert gemeint.

Die Arbeit ist meinen tschechischen Urgroßeltern Anton und Antonia Walla, geb. Konečny, gewidmet, die in den 1870er Jahren ihre mährische Heimat verließen, um in diesem anderen Wien ihr Glück zu suchen und es dort nicht fanden.

1 Cisleithanien war lediglich eine inoffizielle Bezeichnung. Österreich als staatsrechtlichen Begriff gab es erst ab 1915 („österreichische Länder“).