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von Dr. Helmut WALLA

Meine männlichen Vorfahren übten über mehr als fünf Generationen in ununterbrochener Folge das Müllerhandwerk aus. In mindestens zwei Fällen heirateten sie auch Müllerstöchter.
Auch in Seitenlinien meiner Familie wurde über mehrere Generationen der Müllerberuf ausgeübt. Sie alle lebten in kleinen mährischen Dörfern in der Umgebung des Städtchens Groß Meseritsch (Velké Meziříčí)1 und übten dort ihr
Handwerk aus: In Uhřinov, Šeborov, Vaneč, Kamenice und Kundratice standen ihre Mühlen.
Soweit ich es überblicke, ist Uhřinov der geographische Ausgangspunkt meiner familiären Herkunft. Im mährischen Lahnenregister von 1669 bis 1679 sowie in einem Urbar der Herrschaft Meseritsch von 1695 finden sich meine vermutlich ältesten Vorfahren. Mein frühester nachgewiesener Urahn muss dort um 1630 herum geboren worden sein. Heute gehören Velké Meziříčí, Uhřinov und die meisten anderen angeführten Dörfer zum Kraj Vysočina (Region Hochland) und zum Okres Žďár nad Sázavou (Bezirk Saar). Mit einem solchen familiären Hintergrund ist es naheliegend, sich nicht nur mit den Lebensdaten seiner Vorfahren zu beschäftigen, sondern auch das alte Müllerhandwerk näher zu erforschen.

Wenn man über den Müllerberuf eine Arbeit verfasst, erscheint mir eine rein technische Sicht auf dieses alte Handwerk zu wenig. Mindestens ebenso interessant sind die Lebensund Arbeitsbedingungen dieses Berufsstandes und das komplexe Umfeld, in welches das Gewerbe eingebettet war. Durch allgemeine Aussagen über diesen Beruf sowie die conditio humana des ländlichen mitteleuropäischen Raumes in den vergangenen Jahrhunderten gewinnt man zumindest ansatzweise eine gewisse Vorstellung davon, was es bedeutet hat, im 17., 18. und 19. Jahrhundert den Müllerberuf in Mitteleuropa bzw. im alten Österreich ausgeübt zu haben. Wenn ich hier und im Folgenden vom Müllerberuf spreche, dann meine ich ausnahmslos das Handwerk des Getreidemüllers. Oft wurde in den Mühlbetrieben aber nicht nur Getreide gemahlen, sondern mithilfe der Mühlentechnik auch andere Produkte verarbeitet und erzeugt, wie z.B. Öl in speziellen Ölmühlen oder Gips in speziellen Gipsmühlen. Vor allem wurden häufig Brettersägen (auch Sägemühlen bzw. Sägen genannt) durch die vorhandene Wasserkraft mitbetrieben und meist als Nebengewerbe geführt. Was die Mühlen anbelangt, so handelt meine Arbeit ausschließlich von den Wassermühlen.

Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf das ländliche Leben, das sich grundsätzliche von den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der Stadtbewohner unterschied. Das Buch soll dem Leser und der Leserin ein ungefähres Bild über die berufliche und soziale Situation der Landmüller2 in der frühen Neuzeit3 vermitteln. Der Landmüller lebte ja in einer bäuerlich geprägten Umgebung, die auch sein soziales und wirtschaftliches Umfeld bestimmte. In diesem Zusammenhang gehe ich daher auf folgende Fragen näher ein:

• Wie lebten die Menschen auf dem Land in der vorindustriellen Epoche?
• In welches wirtschaftliche und soziale Gefüge war die damalige Landbevölkerung eingebettet?
• Was verstehen wir unter einer Mühle und wie funktioniert sie?
• Was ist ein (Land-)Müller?
• Wie wurde man damals überhaupt Müller?
• Wie war seine soziale und wirtschaftliche Stellung im Rahmen der Dorfgemeinschaft?

Dabei ist zu beachten, dass in meiner Arbeit das klassische Handwerk des Getreidemahlens, das mit Hilfe einer Wassermühle betrieben wird, im Mittelpunkt steht. Ohne nähere Erläuterung bezeichnet also Müller den Mehlproduzenten und Mühle die Wassermühle. Weiters beschränke ich mich in meiner Arbeit auf den sogenannten „Lokalverkehr“, also die Produktion von Mehl für einen regional stark eingegrenzten „Tagesbedarf“. Die (Überschuss-)Produktion für Märkte oder gar der Fernhandel mit Mehl und Getreide wird nicht behandelt. Ungeachtet der weit verzweigten Handelsbeziehungen war die ursprüngliche bäuerliche bzw. dörfliche Ökonomie ja eine der Subsistenz und nicht des Profits: Man produzierte was man brauchte, auf den Markt kam, was selbst nicht benötigt wurde, also nur ein kleiner Teil des Ertrages. Der (Land-)Müller war sozial und ökonomisch eng mit seiner bäuerlichen Umgebung verbunden und in spezifischer Weise in das Sozialgefüge des Feudalismus integriert. Sein Berufsstand war naturgemäß eng mit der Landwirtschaft verknüpft und ohne sie nicht denkbar. Er war Teil der Dorfgemeinschaft, aber kein normales Mitglied, wie ich zu zeigen versuchen werde. Obwohl er einen gewissen Sonderstatus hatte, war der Müller ebenso Untertan seiner Grundherrschaft wie die Bauern, deren Getreide er mahlte.

Wer sich näher mit der Mühlen- und Müllerliteratur beschäftigt wird feststellen, dass in den meisten Arbeiten vor allem kleinräumigregionale Aspekte mit oft unklaren historischen Zuordnungen beschrieben sind. Länderübergreifende oder vergleichende Studien zum Mühlenwesen findet man hingegen kaum. Bei der Beschreibung historischer Mühlen dominiert üblicherweise jene Technik, welche eher für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts maßgeblich war, auf die in der vorliegenden Arbeit zwar hingewiesen,
aber nicht näher eingegangen wird. Ich habe versucht, einen anderen Ansatz zu finden: Ich gehe weiter in der Zeit zurück und versuche mehrere Regionen zu betrachten, wobei der geografische Schwerpunkt bei den österreichischen und böhmischen Ländern der Habsburger Krone liegt. Ungeachtet der Quellenprobleme
habe ich zumindest ansatzweise versucht, einige allgemeine, für Mitteleuropa gültige Prinzipien
herauszuarbeiten. In einigen Fällen ist es auch gelungen, Vergleiche zwischen regional unterschiedlichen Regeln und Praktiken anzustellen. In die vorliegende Arbeit sind auch zahlreiche Ergebnisse meiner persönlichen Familienforschung eingeflossen, die zum Teil im Einklang mit der gängigen Literatur über den Müllerberuf stehen, teilweise aber auch gegenteilige Befunde und Evidenzen erbracht haben. Mit Generalisierungen muss man eben immer sehr vorsichtig sein! In vielen Fällen können ganz einfach nur verallgemeinernde Aussagen getroffen werden, zu unterschiedlich waren die regionalen und historischen Gegebenheiten, insbesondere was das Verhältnis zwischen den Gutsherren und ihren Untertanen betrifft. Am geringsten sind die Unterschiede bei den Wassermühlen selbst. Während wir in Mitteleuropa über einen langen Zeitraum von einer regional kaum differenzierten und relativ einheitlichen Mühlentechnik ausgehen können, ist zu beachten, dass sich die Lebensformen in jener Zeit von Region zu Region in wesentlichen Details unterscheiden konnten. Ich habe deshalb versucht, aufgrund meiner persönlichen regionalen Interessen den Schwerpunkt meiner Arbeit auf Aspekte zu legen, die im 18. und frühen 19.
Jahrhundert vor allem in Böhmen, Mähren und Niederösterreich für das Mühlenwesen besonders relevant waren, nicht zuletzt auch deshalb, weil die (verfügbare) Quellenlage in regionaler und zeitlicher Hinsicht viel besser ist als für die Jahrhunderte davor. Außerdem sind auch Materialien und Befunde aus deutschen Ländern und Regionen in die Analyse eingeflossen.

Wie müssen wir uns, die wir von den Segnungen der Zivilisation und der modernen Technik des 20. und 21. Jahrhunderts in so überreichem Maße profitieren, das Leben auf dem Lande in der frühen Neuzeit nun tatsächlich vorstellen? In welches gesellschaftliche Umfeld waren die Bauern, die Müller und alle anderen Landhandwerker
damals eingebettet? Mit diesen Themen beginnt die vorliegende Arbeit.

Glück zu!4

 

1
Velké Meziříčí (Groß Meseritsch), ist eine am Zusammenfluss der Oslava und der Balinka im Süden der Böhmisch-
Mährischen Höhe (Vysočina) gelegene mährische Kleinstadt mit aktuell 11.700 Einwohnern.

2

Müller, die ihr Gewerbe in Städten ausübten, hatten ganz andere soziale, wirtschaftliche und mitunter auch rechtliche Rahmenbedingungen, auf die ich im Rahmen dieser Arbeit kurz im Kapitel „Die Stadt – ein anderer Lebensraum“ eingehe.

3

Für diesen Begriff gibt es keine exakten Epochengrenzen. Üblicherweise wird darunter jener Zeitraum verstanden, der etwa von 1500 bis 1800 reicht.

4

„Glück zu“ ist die traditionelle Grußformel der Müller.