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„S’gibt nur a Kaiserstadt, s’gibt nur a Wien“
lautet der Titel einer von Johann Strauss (Sohn)
1864 komponierten Polka. Damit scheint das
offensichtlich Einzigartige der Donaumetropole
in beschwingten Melodien zum Ausdruck
gebracht zu sein. Aber gab und gibt es wirklich
nur ein Wien, ist die Behauptung, es hätte auch
ein anderes Wien gegeben, nicht absurd? „Anders“
bedeutet in diesem Sinne vor allem: anders
als bekannt. Es kommt eben darauf an, aus
welcher Perspektive eine Stadt gesehen und
beschrieben wird, und mit welchen gänzlich
unterschiedlichen Lebensbedingungen ihre
Bewohnerinnen und Bewohner konfrontiert
waren. Und hier sind für das Wien der Jahr-
hundertwende tatsächlich einige Differenzie-
rungen erforderlich, um der Realität gerecht zu
werden. Zu Recht erinnert man sich in Öster-
reich mit einem gewissen Stolz an die Zeit der
Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als Wien
die glanzvolle Reichshaupt- und Residenzstadt
der österreichisch-ungarischen Monarchie gewesen
ist. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
verwandelte sich Wien in rasanter
Geschwindigkeit zu einer bedeutenden Metropole
von internationalem Format. 1890 lebten
in Wien rund 1,4 Millionen, 1910 bereits mehr
als zwei Millionen Menschen, ein seither nie
mehr erreichter Höchststand. Im Jahr 1900 war
Wien mit rund 1,7 Millionen Einwohnern bereits
die viertgrößte Stadt Europas. Nur London,
Paris und Berlin waren größer.

Die Ringstraße feierte 2015 ihr 150jähriges
Jubiläum, und man gedachte in diesem Zu-
sammenhang auch ihrer Bauherren und Architekten
sowie der zahlreichen Persönlichkeiten
aus Kunst, Kultur und Wissenschaft, welche
die Erinnerung an diese Epoche nachhaltig
geprägt haben. Sie gehörten fast ausnahmslos
dem Großbürgertum an, waren Superreiche
oder sehr wohlhabende Menschen. Sie
repräsentieren das eine Wien. Die Bewohner
des anderen Wien sind längst vergessen: Die
kleinen Angestellten und Gewerbetreibenden,
die Arbeiter und Arbeiterinnen, die Dienstboten
und Wäscherinnen, die Fabrikarbeiter, das
Proletariat, sie alle, die in der Vorstadt und den
Vororten unter äußerst prekären Verhältnissen
ihr Dasein fristende Unterschicht kennt man
nicht mehr. Sie sind im Gegensatz zu den oberen
Zehntausend jener Zeit für uns heute lebenden
Menschen „unsichtbar“. Herkömmliche
Erzählweisen über das damalige Wien stellen
Armut eher als ein Randgruppenphänomen dar
oder blenden dieses Thema gänzlich aus. Aber
der Großteil der Bevölkerung Wiens um die
Jahrhundertwende war arm, eine Tatsache, die
so gar nicht zu dem ebenso verklärten wie verkitschten
Wien-Bild jener Zeit passt und weitgehend
verdrängt ist: Massenarmut und Elend
sind nicht Teile des kollektiven Gedächtnisses
der Stadt. Wenn der Rand der Gesellschaft aber
nicht nur ein dünner Saum ist, sondern aus mehr
als einer Million Menschen besteht, kann man
dann in historischen Reminiszenzen bürgerliche,
geordnete Verhältnisse als Normalität darstellen?
Mit dem Thema dieser Arbeit befinden
wir uns daher nicht am Rande, sondern in der
Mitte der damaligen Gesellschaft. Während die
Oberschicht in einem wahrhaft goldenen Zeitalter
lebte, vegetierte die große Mehrheit der
Wiener Bevölkerung vor sich hin. Vor allem die
Arbeiterschaft führte im Gegensatz zur relativ
schmalen Schicht des Adels und des wohlhabenden
Bürgertums ein Leben am Rande der
Existenz. Die in großem Maßstab verbreitete
Armut in der Belle ‚Époque‘ gehört definitiv
nicht zur allgemeinen Erinnerung. Zwar fehlt
in Sachbüchern und Zeitungsartikeln, die sich
mit historischen Stadtbeschreibungen und den
damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen beschäftigen,
kaum der dezente Hinweis auf das
Elend der Armen. Was allerdings durchwegs
fehlt, ist die Darstellung der Größenordnung
der notleidenden urbanen Unterschicht. Wien
unterschied sich hinsichtlich der allgemeinen
tristen sozialen Verhältnisse in großen Teilen
der Bevölkerung ja nicht wesentlich von anderen
Metropolen der damaligen Zeit. Aber in der
Erinnerungskultur gibt es teils gravierende Unterschiede:
Der Gedanke an Alt-Wien blendet

Not und Elend und damit eine realistischere
Vergangenheitseinschätzung weitgehend aus.
Das findet man in anderen Ländern und Städten
nicht in diesem Ausmaß. Die vorliegende
Arbeit thematisiert diese Diskrepanz und befasst
sich im Gegensatz zu herkömmlichen Betrachtungsweisen
schwerpunktmäßig mit den
Lebens- und Arbeitsbedingungen jener etwa
1,5 Millionen Menschen, die abseits des Glanzes
der Kaiserstadt und der Zonen der Eleganz
ihr Dasein im Wien der Jahrhundertwende fristen
mussten: Sie lebten im Schatten der Ringstraßengesellschaft.
Literatur dazu findet man
heute sehr selten, das Interesse der Historiker
am Alltag der einfachen Menschen, am Alltäglichen,
ist ja im Allgemeinen eher gering. Die
klassische Geschichtsschreibung orientiert sich
vielmehr an den großen Ereignissen und den
maßgeblichen Akteuren der jeweiligen Epoche.
Bei heutigen Autoren, die das Thema Alt-
Wien behandeln, überwiegt der anekdotische
bzw. verklärende Zugang. Die Vergangenheit
fließt quasi durch ein Sieb und was übrigbleibt,
ist Geschichte, wie die britische Autorin Hilary
Mantel einmal sinngemäß bemerkt hat. So
ist es kein Wunder, dass man bei näherer Beschäftigung
mit den Lebensbedingungen der
Durchschnittsbevölkerung vergangener Zeiten
eine weitgehend fremde und unbekannte Welt
betritt, denn dieser Teil unserer Vergangenheit
ist tatsächlich nahezu rückstandsfrei durch das
Sieb der Geschichte gelaufen.

Wien, über Jahrhunderte die Haupt- und Residenzstadt
des altehrwürdigen Reiches der Habsburger, war in
besonderer Weise mit dem Monarchen verbunden.
Im Gedächtnis der Stadt ist vor allem Kaiser Franz Joseph I.
verankert, der als gütiger, greiser Landesvater
einen Fixplatz in der österreichischen Erinnerungskultur
einnimmt. Seine lange Regierungszeit
wird allgemein als Friedenszeit erinnert,
jedenfalls bis 1914. Der Grund liegt wohl
darin, dass Österreich tatsächlich nach 1866
keinen „echten“ Krieg mehr geführt hatte und
eine ganze Generation nur eine – wenn auch
sehr labile – Friedenszeit kannte. Heutige Historiker
sehen das kritischer und differenzierter.
Die Person des alten Kaisers war zwar die
letzte Klammer des auseinanderbrechenden
Reiches, er hatte allerdings selbst einen großen
Anteil an dessen Niedergang. Ohne das eigentliche
Thema überdehnen zu wollen sei in aller
Kürze an folgende (europäische) Konflikte mit
z.T. weitreichenden Konsequenzen erinnert, in
denen die Habsburgermonarchie in der Regierungszeit
Franz Josephs stets eine mehr als unglückliche
Rolle spielte:

• Revolution 1848: Die Revolution scheiterte,
die Aufstände wurden blutig niedergeschlagen.
Der neue Kaiser Franz Joseph
I. herrschte nach seinem Regierungsantritt
fast zwei Jahrzehnte absolutistisch.
• Italienkriege 1848/49/59: Der schwelende
Konflikt mit Sardinien-Piemont bzw.
Frankreich endete schließlich 1859 mit der
Niederlage der österreichischen Truppen
bei Solferino und dem Verlust der Lombardei
sowie weiterer italienischer Besitzungen.
• Krimkrieg 1853 bis 1856: Franz Josephs
indifferent-neutrale Haltung in
diesem Konflikt führte außenpolitisch
zu einer Isolierung Österreichs und war
– neben den Interessen Habsburgs am
Balkan - der Hauptgrund für die entstehende
Feindschaft mit Russland.
• Deutsch-Dänischer Krieg 1864: Österreich
beteiligte sich ohne Not an der Seite
Preußens an diesem Krieg, der ausschließlich
deutschen Interessen diente.
• 1866 Niederlage bei Königgrätz: Das
militärische Debakel gegen die preußischen
Truppen führte zum Verlust Venetiens
und zum Ausscheiden Österreichs aus
dem Deutschen Bund. Preußen errang zu
Lasten der Habsburgermonarchie die Vormachtstellung
in den deutschen Ländern.
Die Konsequenzen waren schwerwiegend:
Nach dem Verlust seiner Führungsrolle im
Deutschen Bund geriet der Habsburgerstaat
in zunehmende wirtschaftliche und
politische Abhängigkeit von dem 1871 neu
gegründeten Deutschen Reich.
• 1867 Ausgleich mit Ungarn: Unter dem
Zwang des habsburgischen Machtverlustes
kam es zum Ausgleich mit Ungarn, das dadurch
seine innenpolitische Selbständigkeit
erlangte. Der institutionalisierte Dualismus
brüskierte den slawischen Teil der Bevölkerung,
behinderte letztlich notwendige
Reformen und führte zu einer innenpolitischen
Lähmung. So scheiterte etwa der
Versuch, Böhmen die gleichen Selbstregierungsrechte
wie den Ungarn zu gewähren,
am hartnäckigen Widerstand Ungarns, das
auf seiner alleinigen Sonderstellung bestand. 1
• 1878 Besetzung von Bosnien-Herzegowina:
Beim vertraglich-diplomatisch gedeckten,
aber schlecht vorbereiteten Einmarsch
der österreichischen Truppen in diese (formal)
osmanischen Provinzen kam es zu
blutigen Auseinandersetzungen mit der Bevölkerung.
2 Die Armee beklagte rd. 5.000
Mann Verluste, davon rd. 1.000 Tote.3
• 1908 Bosnien-Herzegowina wird annektiert:
Die verhängnisvolle Entscheidung,
mit der auch gegen den Berliner Vertrag
von 1878 verstoßen wurde, hatte negative
innen- und außenpolitische Konsequenzen
(„Annexionskrise“). Ein europäischer
Krieg konnte nur knapp vermieden werden.
Österreich-Ungarn wird durch diesen Alleingang
endgültig außenpolitisch isoliert.
Im Osmanischen Reich kam es aufgrund
dieser Annexion zu heftigen Massenprotesten
und zu einem Boykott österreichischer
Einrichtungen. Franz Joseph war gezwungen,
ein türkisches Stillhalten durch eine
Entschädigungszahlung von 2,2 Millionen
Pfund zu erkaufen.
• 28. Juli 1914: Beginn des Ersten Weltkrieges
aufgrund einer Kriegserklärung Kaiser
Franz Josephs an Serbien, die Auslöser einer
verhängnisvollen Kettenreaktion werden sollte.

Darüber hinaus hatte sich Österreich-Ungarn 1900
mit einem kleinen, aus rd. 200 Soldaten
bestehenden Marinedetachement an der internationalen
Strafexpedition zur Niederschlagung
des Boxer-Aufstandes in China beteiligt.
So viel in aller Kürze zum politisch-militärischen
Geschehen in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts, das Kaiser Franz Joseph I. und
seine fatale Außenpolitik in einem ganz anderen
Licht erscheinen lässt. Die Schwäche der
Habsburgermonarchie schlug sich nicht nur in
einer zunehmenden Isolation des Reiches nieder,
sondern verstärkte auch innenpolitisch ein
Gefühl des Niedergangs und der Ausweglosigkeit
und beflügelte die zentrifugalen Kräfte im
Reich. Das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts
bis zum Ausbruch des Großen Krieges ist auch
deshalb von zunehmenden nationalen Spannungen,
Streiks und inneren Unruhen geprägt.
Dieser eher unbekannten Facette der österreichischen
und insbesondere der Wiener Geschichte
ist ein eigenes Kapitel gewidmet.

Das in Wien um die Jahrhundertwende herrschende
soziale Klima ist m. E. ohne Verständnis
der innenpolitischen Situation Österreichs
nach 1867 nur rudimentär zu begreifen. Wien
war Hauptstadt eines mitteleuropäischen Großreiches,
das ein binneneuropäischer Vielvölkerkomplex
ohne Kolonialbesitz war und als
ein Unikum angesehen wurde. Franz Joseph I.
war zugleich Kaiser von Österreich und König
von Ungarn. Österreich-Ungarn war kein
herkömmlicher Staat, der Dualismus eine nur
schwer verständliche politische Konstruktion.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert war das alte
Reich der Habsburger bereits ein merkwürdiges
Gebilde, ein Anachronismus, wie viele
meinten, und das nicht nur in staatsrechtlicher
Hinsicht. Eine schon die Zeitgenossen verwirrende
Kombination des Buchstabens k unterschied
die regierenden Körperschaften bzw.
Institutionen:4

• k. (königlich) bezieht sich auf das Königreich
Ungarn
• k.k. (kaiserlich-königlich) bezieht sich auf
die Herrschaft über die österreichischen
Kronländer. Kaum jemand ist sich dessen
bewusst, dass mit dem zweiten k das Königreich
Böhmen gemeint war.5
• k. u. k. (kaiserlich und königlich) bezieht
sich auf die drei kaiserlichen und königlichen
Ministerien, die gemeinsam für Österreich
und Ungarn geführt wurden (Heer,
Auswärtige Angelegenheiten und die damit
verbundenen Finanzen). In diesem Fall
verweist das zweite k auf das Königreich
Ungarn.

Dieses Sammelsurium an mitunter schwer zu
durchschauenden Begriffen und ihren Anwendungen
hat Robert Musil dazu inspiriert, dieses
namenlose Staatsgebilde spöttisch ‚Kakanien‘
zu nennen.6 William Johnston veranlasste dies
zur scherzhaften Bemerkung, das alte Österreich
wäre in Ermangelung eines eigenen Namens
zugrunde gegangen.7 Mir scheint dies
– ungeachtet seiner anekdotischen Form - ein
sehr tiefsinniger Gedanke zu sein. Für Robert
Musil war das österreichische Staatsgefühl vaterlandslos.
„Der Österreicher kam nur in Ungarn
vor, und dort als Abneigung. […] daheim
nannte er sich einen Staatsangehörigen der im
Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder
der österreichisch-ungarischen Monarchie
[…] er tat das nicht etwa mit Begeisterung,
sondern einer Idee zuliebe, denn er konnte die
Ungarn ebenso wenig leiden wie die Ungarn
ihn.“8 Das alte Österreich war ein „Staat ohne
Namen“. Neben den aufkommenden Strömungen
von Nationalismus und Populismus
war auch die fehlende gemeinsame Staatsidee
eine wesentliche Signatur des habsburgischen
Vielvölkerreiches in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts. Manche Historiker scheuen Differenzierungen
und verwenden vereinfachend,
aber auch zutreffend, für Cisleithanien den
Begriff Habsburgermonarchie. Den damaligen
territorialen Verhältnissen geschuldet lebten
in der Donaumonarchie Deutsche, Tschechen,
Ungarn, Slowaken, Polen, Ruthenen usw., aber
keine Österreicher. Für den Historiker bleibt

mangels einer offiziellen Begrifflichkeit
manchmal nichts anderes übrig, als sie alle
mit dem gesamthaften Begriff ‚Untertanen der
Habsburgermonarchie‘ zu umschreiben.

Das 19. Jahrhundert war vor allem die große
Epoche des Bürgertums, das den Adel als
bestimmende gesellschaftliche und wirtschaftliche
Kraft endgültig abgelöst hatte. Die
Ringstraßenbarone wurden aufgrund ihrer internationalen
Verbindungen und ihres enormen
Kapitals für das Kaiserhaus zu unverzichtbaren
Partnern, wenn auch nicht ganz auf Augenhöhe.
Die Gedankenwelt der damaligen adeligen Eliten
war teilweise noch in mittelalterlich-feudalen
Vorstellungen verhaftet, während das Zeitalter
der Moderne längst angebrochen war und
von Wien aus bedeutende Impulse im Positiven
wie im Negativen ausströmten: Alles, was das
20. Jahrhundert in technischer, intellektueller
und politischer Hinsicht prägen sollte, wurde
in jener Zeit vorgedacht, sodass es etwa, um
nur ein Beispiel zu nennen, bereits wenige Monate
nach dem Untergang der Monarchie und
der Gründung der Republik Österreich möglich
war, das modernste sozialpolitische Instrumentarium
seiner Zeit zu entwickeln. Die letzten
30 bis 40 Jahre der Habsburgermonarchie
waren innenpolitisch nicht nur eine Epoche des
Glanzes, sondern auch eine Phase der Gärung.
Ein Umbruch manifestierte sich auf allen Ebenen
des politischen und gesellschaftlichen Lebens.
Wien als Reichshaupt- und Residenzstadt
war eine multiethnisch geprägte Metropole eines
ebenso multiethnisch zusammengesetzten
Vielvölkerstaates, in der alle Strömungen und
Entwicklungen des ausgehenden 19. und des
beginnenden 20. Jahrhunderts wie durch ein
Vergrößerungsglas zu beobachten waren. Die
Vorstellung von der damaligen Zeit und die tatsächliche
Realität klaffen allerdings weit auseinander.
Heutige und damalige Erzählungen,
Romane, Zeitungsartikel und zahlreiche Ausstellungen
vermitteln uns den Eindruck einer
im Großen und Ganzen intakten Gesellschaft,
die sich aus Vertretern der Hochfinanz, der Diplomatie,
dem glamourösen Adel, Künstlern
und vor allem aus Vertretern der kaiserlichen
Familie zusammensetzte, und in der einfache
Leute – wenn überhaupt – in Gestalt kaiserFAMILIA
AUSTRIA - Schriftenreihe Nr. 11: Abseits des Glanzes 9
treue Kleinbürger nur am Rande als Lokalkolorit
vorkommen.

Will man das andere Wien kennenlernen, dann
muss man sich auch auf eine völlig andere
Sichtweise einlassen. Das kitschig-verklärte,
vollkommen unrealistische Bild von Alt-Wien
und der guten alten Zeit ist dabei ebenso wenig
hilfreich, wie eine Konzentration auf das
glanzvolle Kultur- und Geistesleben des zweifellos
realen Wien der Ringstraßenzeit, des Fin
de Siècle und der Moderne. ‚Wien um 1900‘ ist
dank zahlreicher Publikationen und Ausstellungen
zu einer eigenen Marke geworden. Diese
hauptsächlich populär-kulturell konnotierte
Chiffre umfasst aber nur die damalige schmale
Schicht der Eliten und verstellt dadurch ebenso
wie der Kitsch die Sicht auf die Lebenssituation
der Mehrheitsbevölkerung. Für mich hat das
tatsächliche Bild von Wien und der Monarchie
rein gar nichts mit dem honigsüßen und verlogenen
Klischee von ‚Sissi‘ und dem ‚guten, alten
Kaiser in Schönbrunn‘ gemein. Vor allem in
den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde
systematisch (aus durchaus nachvollziehbaren
Gründen) ein schönfärberisches Bild unserer
Stadt und der damaligen gesellschaftlichen
Verhältnisse gezeichnet. Wer braucht ein Bild
der Wahrheit, wenn die tröstende Illusion doch
so schön ist? Stereotype und Klischees bestimmen
aber letztlich unsere Erinnerungen. Und
das hat seine guten Gründe, wie später noch zu
lesen sein wird. Eine entsprechende, sich selbst
verstärkende Tendenz hält noch heute an, die
verzerrten bzw. einseitigen Vorstellungen haben
sich verfestigt.
Abbildung 1
Die Welt von Gestern – elegantes Publikum am Ring
vor dem k.k. Museum für Kunst und Industrie
Für die Reichen und Schönen der feinen und
besseren Gesellschaft war vor allem die zweite
Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Zeitabschnitt,
der den „Oberen Zehntausend“ jeden erdenklichen
Luxus und Komfort ermöglichte. Europaweit
sprach man gar von einem goldenen
Zeitalter. Insbesondere Wien schien am Höhepunkt
seines Glanzes angekommen zu sein. Zu
keiner Zeit waren Einkommen und Vermögen
aber so ungleich verteilt wie damals, es war
eine Epoche der Extreme. Aus der Sicht der
städtischen Massen, die in den Elendsvierteln
der europäischen Metropolen dahinvegetierten,
musste das Bild eines ‚Gilded Age‘ später
bloß wie eine Nachkriegserfindung erscheinen.
Weder die einfachen Menschen am Land noch
die Masse der städtischen Bevölkerung bekamen
von den sich verbessernden Lebensverhältnissen,
wie sie die bürgerliche bzw. adelige
Oberschicht tatsächlich erfahren hatte, etwas
zu spüren. Der Großteil der 1910 bereits mehr
als zwei Millionen Menschen zählenden Bevölkerung
Wiens lebte in den Mietskasernen
der Vororte und Vorstädte in äußerst prekären
Verhältnissen und meist in bitterer Armut. Hinter
mitunter schönen, den Ringstraßenstil imitierenden
Fassaden waren Elendsquartiere mit
finsteren Innenhöfen anzutreffen. In den dahinter
liegenden winzigen, feuchten, lichtlosen
Elendswohnungen starb jedes dritte Kind. Die
Wohnverhältnisse waren für die meisten Familien
schrecklich. Aufgrund der kapitalistischen
Logik des Wohnbaus, auf möglichst billigem
Baugrund möglichst billig und daher schlecht
zu bauen, entstanden vorzugsweise jenseits des
heutigen Gürtels ganze Viertel und Gebiete, in
denen ausschließlich arme Leute wohnten, die
sich nichts Besseres leisten konnten. In diesen
„enteren Gründ“9 waren Not und Elend zuhause.
Die schlechten Wohngegenden wurden von
der Bourgeoisie als Bedrohung wahrgenommen
und nach Möglichkeit gemieden. Armut
war im damaligen Wien kein Randphänomen,
sondern eine Massenerscheinung, die von den


wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen
Verhältnissen jener Zeit quasi ‚produziert‘
wurde. Als Massenphänomen war Armut
daher alles andere als individuell verschuldet.
Die obere Gesellschaftsschicht stand der sozialen
Frage teils gleichgültig, teils hilflos gegenüber.
Ich will daher – schon der Gerechtigkeit
willen – eine andere Geschichte erzählen. Mit
meiner Arbeit möchte ich vor allem den Blick
auf die prekären Lebensverhältnisse der Wiener
Mehrheitsbevölkerung richten, die einen
harten Daseinskampf zu führen hatte. Das betrifft
vor allem die Aspekte Einkommen, Wohnen
und Ernährung, zu denen der Leser und die
Leserin in einigen Kapiteln des Buches zahlreiche
Belege und Evidenzen finden werden. Das
Buch behandelt in diesem Bemühen nicht nur
die wesentlichsten Aspekte der tristen Lebensund
Umweltbedingungen für den größten Teil
der Wiener Bevölkerung, sondern auch weithin
unbekannte Facetten und Ereignisse der Wiener
Stadtgeschichte, die so gar nicht zur Vorstellung
von der idealisierten ‚guten alten Zeit‘
passen.

Welche Mechanismen waren nun für die Verarmung
und Verelendung breiter Wiener Bevölkerungsschichten
in den letzten Jahrzehnten
der Monarchie verantwortlich, von welchen
wirtschaftlichen Verhältnissen bzw. Faktoren
haben wir auszugehen? Das Massenelend entstand
wohl aus einer Kombination ökonomischer,
politischer und gesellschaftlicher Faktoren
und ist jedenfalls nicht monokausal zu
erklären. Die nachstehend angeführten Aspekte
hatten daran jedenfalls einen großen Anteil.

• Für Industrie, Gewerbe, Handel und Hausherren
herrschte Hochkonjunktur, die von
einer hohen Nachfrage nach billigen Arbeitskräften
begleitet wurde.
• Das starke, durch hohe Zuwanderung bedingte
Bevölkerungswachstum führte zu
steigender Konkurrenz am Arbeitsmarkt
und letztlich zu einem allgemeinen Sinken
des Lohnniveaus. Arbeitsrechtliche
Schutzmaßnahmen fehlten weitgehend.
• Hohe Teuerungsraten bei den Grundnahrungsmitteln
und den Mietzinsen setzten
die Arbeiterschaft und die kleinen Angestellten
und Gewerbetreibenden zunehmend
unter Druck.
• Monopole, Kartelle und Schutzzölle verhinderten
den Import günstiger Lebensmittel.
• Zahlreiche Verbrauchssteuern (in Wien für
etwa 250 Artikel) belasteten die ohnehin
knappen Haushaltsbudgets der einfachen
Menschen überproportional.
• Bankiers, Industrielle und Bauspekulanten
lukrierten hohe Gewinne, zahlten aber
praktisch keine Steuern.
• Die Politik bot für die dadurch bedingten
Probleme keine Lösungen. Im Rahmen der
damaligen liberalkapitalistischen Wirtschaftsordnung
wurde Politik nur für das Besitzbürgertum gemacht.
• Frauen und arme Männer waren vom Wahlrecht
ausgeschlossen und hatten daher keine Vertretung
auf der politischen Ebene.
• Die Missstände wurden zwar erkannt, die „soziale Frage“
blieb aber während des ganzen 19. Jahrhunderts
unbeantwortet und ging auf der politischen Ebene
über akademische Diskussionen nicht hinaus.
Ein Ausgleich in Form von Mildtätigkeit wurde
überwiegend dem kirchlichen und privaten Sektor überlassen.

Trotz aller großen Leistungen und Errungenschaften auf
dem Gebiet von Kultur und Wissenschaft gab es für die
sozialen Themen keine wirksamen Lösungsansätze.
Gleiches galt für das Nationalitätenproblem der Monarchie.
Nationalismus und hemmungsloser Populismus führten
zu einer Vergiftung des politischen Klimas, verschärften
in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die
gesellschaftlichen Spannungen und entwickelten gewaltige
zentrifugale Kräfte, ohne einen Beitrag zur Bewältigung
der Probleme zu leisten. Die damaligen Verhältnisse und
die daraus hervorgegangenen Entwicklungen haben
letztlich auch gezeigt, dass ein Staatswesen ohne
Gerechtigkeit, ohne politscher Teilhabe der gesamten
Bevölkerung und ohne Wahrung der berechtigten
Interessen der kleinen, einfachen Leute keine
Akzeptanz hat und auf Dauer nicht bestehen kann.

Die Arbeit enthält mit voller Absicht zahlreiche
zeitgenössische Zitate: Einerseits, um den Text
lebendiger zu gestalten und einen zeitnahen Eindruck
von bestimmten Ereignissen und Sachverhalten zu
vermitteln, und andererseits, um den Sprachstil der
damaligen Zeit mit den Schilderungen zu verknüpfen
und als ein atmosphärisches Element zu nutzen.
Schließlich möchte ich noch auf die
Abgrenzungsprobleme hinweisen, die sich aus dem
gewählten Titel meiner Arbeit ergeben. ‚Um 1900‘
ist recht unbestimmt und daher zu präzisieren.
In zeitlicher Hinsicht beziehen sich meine
Ausführungen in einem weiteren Sinne auf eine
Periode, die von der Eröffnung der Ringstraße am
1. Mai 1865 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges
im August 1914 reicht und die als die glanzvollste
Epoche in der österreichischen Geschichte gilt.
Vor der Ringstraßenzeit ließe sich Wien nur schwerlich
als eine bedeutende Stadt beschreiben. Im Schatten
dieses Glanzes lebte die Wiener Mehrheitsbevölkerung,
womit die Zielgruppe meiner Analyse hinreichend
bestimmt ist: Mein Untersuchungsgegenstand ist
fokussiert auf die Gegenwelt des schönen Scheins.
Was die damaligen sozialen und wirtschaftlichen
Verhältnisse der Menschen anbelangt, verengt
sich der Schwerpunkt meiner Arbeit auf die Jahre
zwischen 1873, dem Jahr des großen Börsenkrachs,
und 1914 mit dem Beginn des Großen Krieges. Not
und Elend für breite Bevölkerungsschichten sind –
ungeachtet der österreichischen Fiktion einer
idyllischen Biedermeierzeit – wohl eine Konstante
des gesamten 19. Jahrhunderts. Aber in der Zeit
nach dem großen Börsenkrach verschlechterten
sich trotz eines rasch danach einsetzenden
Wirtschaftsbooms die Lebensbedingungen für den
Großteil der Wienerinnen und Wiener in dramatischer
Weise, ein schreiender Gegensatz zur
Prosperitätsphase des Gesamtstaates. Diese
ungünstige Ausgangslage wird während der
Kriegsjahre 1914 bis 1918 und in den Monaten
nach dem Friedensschluss nahezu ins Unerträgliche
gesteigert, dieser Abschnitt bleibt aber aufgrund der
gewählten zeitlichen Beschränkung ausgeblendet.
Globalere Aussagen, die nicht nur Wien betreffen,
beziehen sich auf das alte Österreich. Mit Österreich
oder dem alten Österreich bezeichne ich jenen Teil
Österreich-Ungarns (‚Österreichisch-ungarische Monarchie‘),
der staatsrechtlich von 1867 bis 1915 als ‚Die im Reichsrat
vertretenen Königreiche und Länder‘ hieß und auch als
Cisleithanien bekannt ist.10 Wenn unkommentiert
der Begriff Jahrhundertwende gebraucht wird,
dann ist damit die Wende vom 19. auf das 20.
Jahrhundert gemeint. Alle notwendigen Beschränkungen
des Untersuchungsgegenstandes wurden im Bewusstsein
getroffen, dass das gesamte ‚lange‘ 19. Jahrhundert
mit seinen vielfältigen Transformationsprozessen und
Wendepunkten letztlich die Vorgeschichte unserer
Gegenwart ist.

Die Arbeit ist meinen tschechischen Urgroßeltern
Anton und Antonia Walla, geb. Konečny, gewidmet,
die in den 1870er Jahren ihre mährische Heimat
verließen, um in diesem anderen Wien ihr Glück
zu suchen und es dort nicht fanden.

 

1 Martyn Rady, Die Habsburger. Aufstieg und Fall
einer Weltmacht, Berlin 2021, S. 475.

2 Durch den Berliner Vertrag vom 13. Juli 1878.

3 https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreichisch-
Ungarische_Verwaltung_Bosniens_und_der_Herzegowina.

4 Die Abkürzungen beziehen sich nur auf die österreichische
Reichshälfte. In Ungarn gab es eigene „ks“ (m. k. und k. u.).

5 https://de.wikipedia.org/wiki/Kaiserlichk%C3%B6niglich.

6 Siehe Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg
1970, Erster Teil, Kapitel 8.

7 Siehe William M. Johnston, Österreichische Kultur- und
Geistesgeschichte (The Austrian Mind), Graz 1974, S. 337.
Fälschlicherweise bezieht er sich auf Robert Musil, der aber
ein Übermaß an Genie als Grund für den Untergang des
alten Reiches anführt.

8 Robert Musil, Mann , S. 170.

9 Als ‚enter‘ bezeichnete der Volksmund alles, was jenseits,
also dahinter liegt. In Wien waren das die Gegenden jenseits
der Linie (des heutigen Gürtels). Dort ist es auch unheimlich,
also ‚enterisch‘. Das Attribut eines Bewohners der
Vorstadtbezirke lautete ‚vom Grund‘. Grund wurde im
Wienerischen gern als Synonym für einen Ortsteil oder
Bezirk verwendet, z.B. Alsergrund, Thurygrund usw.

10 Cisleithanien war lediglich eine inoffizielle Bezeichnung.
Österreich als staatsrechtlichen Begriff gab es erst ab 1915.
Die Bezeichnung Österreich für Cisleithanien war wegen
des tschechischen Widerstandes nicht durchsetzbar.