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8. ANALPHABETISMUS

"Mein Vorfahre war nur ein Bauer und konnte deshalb wohl weder lesen noch schreiben", so lautet ein weit verbreitetes Klischee.

Die Schulpflicht für alle Kinder geht im Habsburgerreich auf die Regierungszeit "Kaiserin" Maria Theresias (1740 – 1780) zurück. Johann Ignaz von Felbiger (1724 – 1788) verfaßte 1774 die „Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt- und Trivialschulen“ mit der eine sechsjährige Unterrichtspflicht in der Volksschule verbindlich wurde. Dieses Modell wurde auch auf alle anderen Sprachgruppen übertragen.

Aber auch davor gab es natürlich Schulen – und keineswegs nur Klosterschulen. Seit dem Beginn der Neuzeit existierten in Städten, Märkten, aber auch in vielen Pfarrdörfern Trivialschulen, in denen die Kinder Lesen, Schreiben und die Grundrechnungsarten lernten.

Schulerhalter waren die Städte, Märkte, sehr oft auch die katholischen Pfarren und wohltätige Stiftungen. Die Existenz solcher Schulen wird uns Genealogen oft durch die Erwähnung von Schulmeistern, Ludimagistern usw. in Erinnerung gerufen. Auch sind vielfach sehr alte Schülerlisten erhalten.

So ist im beispielsweise im vorderen Buchdeckel der ersten erhaltenen Kirchenmatrik (1628 – 1650) der Pfarre Hain in Niederösterreich eine Liste der Schulanfänger aus dem Jahr 1637 erhalten. Dort werden Buben (Knaben) und Mädchen erwähnt.

Die Pfarre Hain liegt einige Kilometer nördlich von St. Pölten und besteht aus mehreren kleinen Bauerndörfern ohne dominierenden Pfarrort. Trotzdem hat dort eben schon 137 Jahre vor der mariatheresianischen Schulordnung eine Grundschule existiert – und das mitten in den Notzeiten des 30jährigen Krieges. D.h. Bauernkinder haben dort Schulbildung erhalten. Auch in anderen Orten dieser Region werden Schulen und Schulmeister abseits der Klosterschulen ab etwa 1500 erwähnt.

Bauern waren damit in der Neuzeit weder automatisch noch überwiegend Analphabeten. Schließlich haben sie ja auch auf eigene Rechnung gewirtschaftet, mußten daher rechnen und kalkulieren können und ab etwa 1700 auch die Steuerformulare ausfüllen. Natürlich konnten damit nicht alle Bauern und Handwerker lesen und schreiben – wohl aber ein großer Teil.

Dieses Vorhandensein von sehr alten Grundschulen mag in den fruchtbaren Zentralräumen der habsburgischen Länder Nieder- und Oberösterreich, Böhmen, Mähren, Schlesien, Steiermark, Kärnten, Tirol, Vorderösterreich und Österr. Niederlande häufiger gewesen sein, als in den entlegeneren und wirtschaftlich benachteiligten Bergregionen, tendenziell gilt es aber für alle habsburgischen Gebieten des alten Heiligen Römischen Reichs.

In Galizien und der Bukowina, die erst 1772 bzw. 1775 habsburgisch wurden, im alten Königreich Ungarn, im Königreich Kroatien und den ehemals venezianischen Ländern Istrien und Dalmatien gilt das alles nicht.

In den italienischen Ländern Habsburgs: Lombardei, Venetien usw. gab es schon ab dem Mittelalter italienischsprachige Grundschulen.

Dagegen waren die große Gruppe der Dienstboten in den ländlichen Regionen, die Bettelleute, Soldaten usw. meist wirklich Analphabeten.

Zum Schluß noch ein religiöser Aspekt zur Untermauerung dieser Tatsachen. Aus der Zeit der Gegenreformation (ab etwa 1580) sind uns zahlreiche Beschwerden überliefert, daß die Bauern und Handwerker "acatholische" (meist lutherische) Bücher besitzen und diese nicht hergeben wollen. Viele davon wurden schließlich von der Obrigkeit zwangsweise beschlagnahmt und oft auch gegen "gut katholische" Bücher ausgetauscht. Auch das ist ein Beleg, daß zahlreiche Bauern und Handwerker der 16. und 17. Jahrhundert lesen konnten.